Stolz darauf zu sein, aufrecht zu gehen, das wirkt auf den ersten Blick ein bisschen lächerlich. Es kann ja jeder. Allerdings ist Gehen biomechanisch gesehen eine Sensation. Kein anderes Lebewesen in unserer Gewichtsklasse bewegt sich sparsamer fort. „Gemessen an Tieren gleicher Größe, gibt es keine effizientere Fortbewegungsart“, sagte der britische Biomechaniker Robert McNeill Alexander. Einen ebenen Kilometer zu gehen kostet Homo sapiens nur so viel mechanische Energie, wie ein Stockwerk Treppen zu steigen. Wer stehen bleibt und sich ein bisschen aufregt, verbraucht mehr.
Einmal in Bewegung gesetzt, tickt unser Gehapparat gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Mit jedem Schritt wird ein Teil der Vorwärtsenergie in Sehnenspannung und einem sanften Hub der Körpermasse zwischengespeichert, dann fast verlustfrei in Vortrieb zurückverwandelt. Weil wir von der Ferse bis zu den Zehen abrollen, müssen wir kaum die Knie beugen. Die Beine schwingen wie Uhrpendel unter dem Rumpf durch. „Das Pendelprinzip ist das Geheimnis unseres Gangs“, sagt McNeill Alexander. Bei leichtem Gefälle geht man von selbst. Unsere Sehnen federn so gut wie Gummiseile, unsere Gelenke gleiten sanfter als Industrielager. „Der Reibungskoeffizient von Knorpel auf Knorpel übertrifft jedes technische Material“, sagt Wilfried Alt, Bewegungsforscher an der Universität Stuttgart.
Dabei galt der menschliche Gang unter Evolutionsbiologen lange Zeit als Kompromisslösung. Sie dachten, unsere Vorfahren hätten sich in die Vertikale erhoben, um eine bessere Aussicht oder die Hände frei zu haben. Aber womöglich entsprang die Gattung Homo dem evolutionären Druck zu sparsamer Fortbewegung: „Der aufrechte Gang war für sich Grund genug“, sagt Wilfried Alt. „Werfen und Werkzeuggebrauch hat der Mensch erst viel später gelernt.“
Das menschliche Gehirn verschlingt fast ein Fünftel des gesamten Ruhe-Energieumsatzes seines Trägers. Im Austausch für so viel Denkkapazität mussten wir körperlich mit einem Sparmodell vorliebnehmen. Unsere Kreislaufkapazität reicht nur noch aus, um die Beine voll in Aktion zu halten. Wenn wir zusätzlich die oberen Gliedmaßen bewegen, beispielsweise beim Ski-Langlauf, müssen wir unter der Gürtellinie bremsen. „Wir sind nicht nur vom Körperbau her Zweibeiner, sondern auch vom Stoffwechsel her“, sagt der Sportmediziner Hans Hoppeler von der Universität Bern.
Gehen ist gerade das Tempo, für das der Mensch gemacht ist. Seine Mechanik und sein Stoffwechsel sind wie geschaffen dafür, immer weiterzugehen. Wer rennt, wird irgendwann von der Ermüdung seiner Muskeln gestoppt. Gehen hingegen können Menschen praktisch beliebig lange. Und wenn das Ambiente stimmt, wird es auch nicht langweilig. Sinne und Gehirn nehmen die wechselnde Szenerie beim Gehen auf, ohne davon überwältigt zu werden (ZEIT Wissen Nr. 3/2017, 25. April 2017).